THE GREAT ACCELERATION

Ein fotografischen Dialog zwischen Natur und Gesellschaft

In den frühen 2000er Jahren popularisierte der niederländische Chemiker Paul Crutzen ein neues Konzept, das besagt, dass der Einfluss des Menschen auf die Erde sowie auf die Atmosphäre der Erde eine neue geologische Epoche namens Anthropozän darstellen könnte. Diese neue Erzählung über die Beziehung zwischen Mensch und Natur könnte als neue Unterteilung der geologischen Zeit anerkannt werden. Sie fällt zusammen mit dem, was als „Great Acceleration“ bekannt ist, einem immensen sozioökonomischen Wachstum der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Great Acceleration“ hält bis heute an und spiegelt sich in den natürlichen Systemen der Erde wider. Sie ist somit Teil des Anthropozäns.
In Westeuropa gibt es keine ursprüngliche oder unberührte Natur mehr. Alles, was wir als Natur wahrnehmen, wurde vom Menschen beeinflusst: Jeder Wald gepflanzt, der Lauf von Flüssen verändert, die Landwirtschaft industrialisiert, Lebens- räume urbanisiert und zersiedelt. Wilde Tiere in Westeuropa sind synanthrop geworden. Laut dem Wissenschaftsmagazin Nature überstieg die vom Menschen erzeugte globale Masse im Jahr 2020 die gesamte Biomasse auf der Erde. Natur erscheint heute als kulturelles Konstrukt, als ein Ort, der die urbane Vorstellungs- kraft genauso nährt wie das städtische Unterbewusstsein.
Hier finden wir uns angeblich selbst, finden unsere scheinbar wahre Natur. Doch gleichzeitig ist der Mensch zunehmend immer weniger in der Lage, das Terrain zu lesen und ist blind für die vielen Veränderungen und Markierungen, die unsere Vorgänger im Laufe der Jahrhunderte auf dem Land vorgenommen haben. Selbst die Orte, die vorgeben, vom Menschen unverändert geblieben zu sind, Gebiete scheinbar unberührter Wildnis, sind zu einem überfüllten Lebensraum unseres kulturellen Geistes geworden. In den Worten von Robert Smithson verbirgt jede Landschaft, egal wie ruhig und schön sie auch sein mag, ein Substrat vergangenen Unheils.
Trotz einer Ahnung dessen empfinden wir immer noch eine besondere Freude an dieser konstruierten Natur, oft ohne sie dabei als Konstrukt wahrzunehmen. Sie hat eine regenerierende Wirkung auf uns, und ist doch selbst das Resultat größter Degeneration. Das darin liegende Paradox fasziniert mich und soll Thema meiner Forschung sein. Warum übt die Natur in der ihr eigenen Art und Weise, in der wir sie wahrnehmen und reflektieren, einen so großen Einfluss auf uns aus? Woher kommen die Faszination und die Bandbreite an Emotionen, die bestimmten Naturlandschaften in uns hervorrufen?

Mein Ziel ist es, unsere Umgebung, das, was wir als Natur wahrnehmen, zu zeigen und diese als die liminalen Räume zu dokumentieren, zu denen sie geworden sind. Die Natur als Schwellenraum dient uns in ihrer präsentierten Wildheit und Ursprünglichkeit als Ablenkung, als Zufluchtsort. Ihr Wert kann nicht quantifiziert werden. Sie fördert die Abkehr von den gesellschaftlichen Heraus- und Überforderungen und eine klarere Perspektive auf uns selbst. Die Umweltaktivistin Terry Tempest Williams schreibt dazu: „Die Einsamkeit in der Wildnis wird zum bahnbrechenden Geschenk, zu einer Zeit, in der wir kurz davor stehen, den Lärm unserer eigenen Technologien vom Klang des Lebens selbst übertönen zu lassen.“
Und doch ist Natur anthropogen und damit nicht mehr das, was sie vorgibt zu sein oder als was wir sie sehen. Um die Motive nicht romantisch zu verschleiern, sondern die bestehende Liminalität erfahrbar zu machen, braucht es eine objektivistische Sicht auf die Natur. Deshalb möchte ich meinem Sujet mit dem gegenständlich kühlen und realistischen Blick der Neuen Sachlichkeit der Weimarer Ära (1919-1933) gegenübertreten. Ist es möglich, die Natur als Objekt abzubilden? Gestützt auf die Sichtweisen der Neuen Sachlichkeit kann eine solche minimalistische Wahrnehmung voller Bedeutung sein und sich so vom romantischen Idealismus, in dem wir Natur oft wahrnehmen, differenzieren.
Inspiriert von Henry Thoreau möchte ich in meiner Arbeit unsere Beziehung zur Natur überdenken und damit auch reflektieren, welchen Einfluss der Fortschritt und die damit einhergehende „Great Acceleration“ auf die Gesellschaft, auf uns Menschen haben. Dabei möchte ich versuchen, einen fotografischen Dialog zwischen Natur und Gesellschaft zu schaffen.
Anbei finden Sie eine Auswahl meiner Fotografien, die ich zur Veranschaulichung meines Konzepts erstellt habe.

Jürgen Berderow Hamburg, 2023

Literaturverzeichnis
Crutzen, Paul J. 03/01/2002. Geology of Mankind – The Anthropocene. Nature. No 415, p 23.
Demos, T. J. 2016. Decolonizing Nature – Contemporary art and the politics of ecology. Sternberg Press. P. 47
Elhacham, E. Ben-Uri, L. Grozovski, J. et al.
Global human-made mass exceeds all living biomass. Nature 588, p 442-444 (2020). https://doi.org/10.1038/s41586-020-3010-5
Smithson, R, Flam, J. 1996. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press (Edition 2)
Thoreau, H.D. 1854. Walden. Ticknor and Fields, Boston.
Williams Terry T. 2008. Finding Beauty in a Broken World. Pantheon.